Das Streben nach Schönheit
Nachdem ich Signe von Eric Clapton spielen konnte, war ich ja "ein richtiger Gitarrist" und hätte eigentlich wieder damit aufhören können. Das wollte ich aber nicht. Also brauchte ich ein neues Ziel.
Das Finden jener emotionalen Ziele, die zu Begeisterung und erstaunlichen Fähigkeiten führen ist immer auch ein Stück Selbsterforschung. Diese Ziele liegen nicht unbedingt so vordergründig auf der Hand. Meistens sind es Ziele, die andere einem schon vor langer Zeit ausgeredet haben oder von denen man annimmt, das andere sie blödsinnig finden würden und die vielleicht nicht so in die etablierten Denk-Schemen passen.
Mancher weiß es vielleicht auch sofort, aber falls nicht, muss man eben ein bisschen danach in sich suchen.
Ich hatte irgendwann mal die Eingebung, dass Schönheit in der Musik nicht unbedingt an hohe Virtuosität gebunden ist, sondern dass es ganz einfache Stücken geben müsse, die trotzdem unheimlich schön sind.
Ich konnte das nicht unbedingt beweisen, denn ich kannte eigentlich kein solches Stück. Aber es war so eine innere Ahnung und so begann ich danach zu suchen.
Das erste Stück, welches diese Anforderungen erfüllte, war "After Time" von David Qualey. Das Stück war beinahe unglaublich schön, ohne auf große Virtuosität zu setzen.
Für mich war es trotzdem nicht einfach zu spielen, aber ein Musikstück Note für Note in wochenlanger Kleinarbeit einzuüben, das kannte ich ja nun schon.
Wesentlich war, dass ich das Stück unbedingt spielen können wollte - weil es so schön war.
Diese Entwicklung setzte sich über mehrere Jahre fort: Ich suchte und fand Musikstücke, die ich als unglaublich schön empfand.
Von außen sah es so aus, als würde ich nun richtig viel üben. Ich spielte diese Stücke wieder und wieder. Ich spielte sie aber nicht um zu üben, sondern ich spielte sie, weil ich sie so schön fand und weil ich sie einfach immer wieder spielen wollte.
Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass meine Fähigkeiten auf der Gitarre in diesen Jahren erstaunlich zunahmen.
Ich stieß schließlich auf ein Stück, das gleichzeitig Krönung und Abschluss dieser Entwicklungsphase war. Es war wieder ein Stück von David Qualey. Genauer gesagt war es seine Bearbeitung eines Themas von Johann Sebastian Bach: Jesu Joy.
Dieses Stück empfand ich als noch viel schöner als alles, was ich je zuvor gespielt hatte. Ich spielte es manchmal bis zu einer Stunde in endlosen Wiederholungen wieder und wieder. Ich konnte einfach gar nicht mehr aufhören, dieses Stück zu spielen.
Und dann geschah während ich spielte etwas wirklich Erstaunliches:
Irgendwie gab es eine Art "Umschalten meines Funktionsmodus". Die Regie ging vom Kopf an den Körper. Der Körper übernahm das Spielen und ich konnte mich ausklinken und zuschauen. Gleichzeitig veränderte sich das Spiel völlig:
Die Finger hatten plötzlich eine Menge Zeit und glitten in einer unglaublichen Eleganz über die Seiten. Die Töne perlten irgendwie auf eine unbeschreibliche Weise und der ganze Ausdruck veränderte sich. Das Stück bekam eine Art "natürliche Dynamik". Mir rannen vor Rührung die Tränen und ich konnte es nicht fassen: "Bin das wirklich ich, der da spielt?" Ich spielte mit einer Souveränität, einer Perfektion und einem Ausdruck, die ich mir niemals hätte träumen lassen. Da war plötzlich ein Ziel erreicht, das ich mir nie gesetzt hatte, weil ich es ganz einfach sowieso nicht für erreichbar gehalten hätte.
Ich möchte noch mal erwähnen, dass wenn ich hier von Schönheit spreche, von individuell empfundener Schönheit die Rede ist. Es geht nicht darum, was andere oder "die Masse" als schön empfindet, sondern nur was man selbst als schön empfindet.
Ich zum Beispiel empfinde den Klang einer extrem verzerrten E-Gitarre als unglaublich schön und kann davon niemals genug hören. Aber meine Tochter hält sich dann die Ohren zu, verzieht das Gesicht und schreit: "Sofort damit aufhören."
So ist das eben mit individuellem Schönheitsempfinden.
Noch eine Anmerkung:
Diese Betrachtungsweise von Kunst steht einer anderen Sichtweise gegenüber, bei der ständig etwas Neues, Aufregendes, nie Dagewesenes entstehen muss. Viele Künstler stehen heutzutage unter diesem Druck. Das ist in meinen Augen aber eine rational-einseitige Sichtweise:
Es ist das Streben des rational isolierten Geistes, der nur in "neu" und "aufregend" denken kann.
Wenn ich den Begriff "rational isolierter Geist" verwende, dann meine ich einen Verstand, der vom emotionalen System und der Seele getrennt ist, anstatt in einer Einheit mit ihnen zu funktionieren.
Schönheit ist aber keine Sache des Verstandes. Schönheit ist eine Sache des inneren Wesens - eine Sache der Seele.
Schönheit ist einfach. Schönheit verlangt nach Wiederholung des immer gleichen in immer schönerer Ausprägung.
Vieles, das echte Schönheit ist, wird als Kitsch abgetan. Der rational isolierte Geist erkennt sie nicht.
Kitsch gibt es auch: Kitsch ist ein billiges Imitat echter Schönheit. Kitsch entsteht, wenn eine billige Kopie auf die Schnelle entstehen soll.
Echte Schönheit ist einfach, aber sie hat eine Tiefe, die rein äußerlich nicht erfasst werden kann. Die vielen Wiederholungen führen mit der Zeit zu einer immer tieferen Durchdringung und das ist etwas, das nur mit den Augen oder den Ohren nicht wahrgenommen werden kann. Das muss man auch innerlich erspüren.